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03.03.2017

Was ist der Mensch?

Thesen von der Begleitveranstaltung zu "Touchdown" am 2. März 2017 in Siegburg

Artikelbild ©Tomsickova - Fotolia.com 
Wir Menschen sind unergründlich. Diese Eigenschaft teilen alle Menschen. Und deshalb sind wir immer wieder auch bedürftig uns unseres Selbst zu vergewissern, uns selbst kennen zu lernen. In der Begleitveranstaltung zur Ausstellung "Touchdown" am 2. März 2017 ging es darum auszuloten, was uns Begegnungen lehren können über die Frage: Was ist der Mensch? Hier die vorgetragenen Thesen:

 

1.    Wie geht es Menschen mit Down-Syndrom? fragt eine Gruppe von Raumfahrern. Sie besteht aus 6 Menschen mit Down-Syndrom und einem Hund. Sie sind auf der Erde gelandet und untersuchen, wie in unserer Zeit Menschen mit Down Syndrom leben. Sie begegnen den Erdenbewohnern mit Interesse und Neugier. So ist die sehenswerte Ausstellung touchdown in der Bundeskunsthalle konzipiert. In der Frage, die sie stellen, steckt eine weitergehende Frage: „Was ist der Mensch?“ Wenn man die Frage beantwortet, wie es Menschen mit Down-Syndrom geht, antwortet man immer auch ein wenig der Frage, was wir unter dem Menschsein verstehen.

Die Fragen „Was ist der Mensch?“ und „Wer bin ich selbst?“ sind eng miteinander verbunden

2.   
Die Frage: „Was ist der Mensch?“ kann auch übersetzt werden mit der Frage: „Wer bin ich?“. Denn die oder der die Frage stellt, ist ja selbst ein Mensch. Die Frage etwa: „Was ist ein Stuhl?“ ist um ein vielfaches weniger interessant. Diese Übersetzung gilt auch für die Frage der Raumfahrer mit Down Syndrom. Denn sie fragen ja nicht nach irgendwelchen Menschen, sondern gerade nach den Lebensbedingungen von Menschen mit Down-Syndrom. Uns interessiert die Frage nach dem Menschsein, weil wir selbst mit ihr gemeint sind. Diese Frage werden wir nie letztgültig beantworten können. So lange wir leben, können neue Antworten auf die Frage entstehen: „Wer bin ich?“, und so können auch neue Antworten entstehen auf die Frage „Was ist der Mensch?“.

3.    Wir wollen die Idee der Ausstellung einmal aufgreifen: So stellen wir uns vor, wir selbst seien Raumfahrer aus einer fernen Galaxie, die die Erde besuchen. Die Spezies Mensch, also der homo sapiens, bevölkert alle Erdteile, die heißesten Regionen ebenso wie die ganz kalten. Sie ist offenkundig eine besonders komplizierte Lebensform. Sie ist kompliziert, sie macht es sich gerne aber auch kompliziert. Dies kann man an den zwischenmenschlichen Kommunikationen ablesen. Erstaunt stellen wir Raumfahrer fest: Am liebsten beschäftigt sich diese Spezies Mensch mit sich selbst. Denn sie verfügt über Selbsterkenntnis – wenigstens in Ansätzen. Sehr viele kulturelle Errungenschaften kreisen immer wieder um die Frage, was der Mensch sei, genauer, wer ich sei. Wie haben sich die Menschen in der geschichtlichen Vergangenheit verstanden, welcher Wechsel hat stattgefunden?

Was ist der Mensch?  – Antworten von der Antike bis zur Aufklärung 

4.    Wir können nur so weit zurückblicken, wie die geschichtlichen Aufzeichnungen reichen. In früheren Zeiten wurde die Frage: Was ist der Mensch?  gerne mit einer Differenz beantwortet, mit einem Unterschied: Der Mensch ist ein Tier, aber er ist ein Tier mit besonderen Eigenschaften. Der Mensch ist das Tier, das Vernunft hat (er ist ein zoon legon echon). Man kann das auch so übersetzen: Der Mensch ist das Tier, das Sprache hat. Der Mensch ist aber auch das Tier, das Gesellschaften bilden kann (er ist ein zoon politikon). So versteht Aristoteles, einer der herausragenden Philosophen der griechischen Antike, den Menschen. 

5.    Im europäischen Mittelalter entsteht ein Weltbild, das sich aus einer Mischung von griechischer Philosophie und christlicher Tradition zusammensetzt. Dieses Weltbild ist sehr klar und hierarchisch gebildet. Es fußt auf einem universalen Bezug auf Gott. Der Mensch wird zu einem Zwischenwesen zwischen Himmel und Erde. Er lebt auf der Erde, ist aber auf den Himmel ausgerichtet. In der Hierarchie dieses Weltbildes ist der Mensch ein Zwischenwesen, eingerahmt von den Tieren einerseits und den Engeln andererseits! 

6.    Doch immer wieder spielt die Fähigkeit des Menschen, denken zu können, eine große Rolle. Schon der spätantike Philosoph Boethius hat die Frage nach dem Menschen so beantwortet: persona est rationalis naturae individua substantia. Der Mensch ist eine Person und das heißt, er kann rational denken. Das hat sich dann später durchgesetzt: Spätestens seit dem Beginn der europäischen Neuzeit gilt der Mensch als das Tier, das Vernunft hat. 

​7.     Die ersten Aufklärer haben wie Rene Descartes den Menschen vor allem als denkendes Wesen verstanden. Descartes sagt, dass der Verstand die weitest verbreitete Eigenschaft des Menschen sei. Dies ist sicherlich eine optimistische Darstellung. Aber gerade unsere Fähigkeit, zu denken, verhilft uns dazu, die Welt kritisch und mit wissenschaftlichen Mitteln zu betrachten. Am Anfang steht: Cogito, ergo sum.

Zwischenfazit: Alle Antworten sind geprägt von ihrer Zeit

8.     Hier zeigt sich eine Besonderheit in der Beschäftigung mit der Frage: „Was ist der Mensch?“ Weil diese Frage immer auch mit der Frage „Wer bin ich?“ verbunden ist, verstehen Menschen zu allen Zeiten den Menschen so, dass die Eigenschaft, die ihnen am wichtigsten ist, auch die zentrale Rolle bei der Beschreibung des Menschen spielt. Menschen beschreiben den Menschen mit jenen Eigenschaften, die besonders hoch im Kurs stehen. Das Mittelalter betont die Bezogenheit auf Gott. Die Aufklärung dagegen betont das selbstständige und selbstkritische Denken, die Vernunft.

Was ist der Mensch? – Antworten des 19. und 20. Jahrhunderts

9.    Im 19. Jahrhundert beginnt die Industrialisierung, die Ausnutzung wissenschaftlichen Wissens für die Gestaltung von Technik. Man ist stolz auf die Beherrschung der Materie durch Wissenschaft und Technik. Was wundert es, dass man den Menschen nun als den sieht, der Werkzeuge schaffen kann! Das zeigt sich in der Paläoanthropologie: Wenn man Knochen findet und es unklar ist, ob es menschliche Knochen sind, so gibt ein Werkzeug eindeutige Auskunft.

10.    Im 20. Jahrhundert dagegen wechselt der Ton. Der Mensch erscheint nun immer mehr als bedürftig. Der Soziologe Arnold Gehlen begreift zum Beispiel  den Menschen als Mängelwesen. „Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier“ hat Nietzsche gesagt. Der Mensch hat nicht deshalb Kultur, weil er so reich ausgestattet ist, sondern weil er bedürftig ist. Ohne Kultur ist der Mensch stets unterlegen, er ist so etwas wie ein nackter Affe, ein Säugetier, das nicht geschützt ist, weder besonders stark noch besonders robust. Die Kultur kompensiert die natürlichen Mängel.

Was ist der Mensch? – Aktuelle Forschungsansätze

11.    Die aktuelle Diskussion um die Frage „Was ist der Mensch?“ wird durch die Erkenntnisse der Tierforschung beeinflusst. Peu à peu werden Eigenschaften, die man zuvor ausschließlich dem Menschen zugesprochen hat, auch bei den Tieren entdeckt: Selbsterkenntnis (Affen erkennen einen roten Fleck auf ihrer Stirn im Spiegelbild), Sprache (Affen, die in menschlicher Umgebung aufwachsen, erwerben ein beachtliches Sprachvermögen),  Werkzeuge (schon Raben können Werkzeuge gezielt benutzen), Kultur (Affengruppen geben bestimmte Eigenarten im Werkzeuggebrauch weiter).

12.    Die moderne Verhaltensforschung zeigt: Der Mensch lässt sich nur mit größten Schwierigkeiten vom Tier unterscheiden. Einen aussichtsreichen und differenzierten Versuch macht Michael Tomasello: Nur Menschen, so meint er, sind zu einer gleichgerichteten Aufmerksamkeit, zu einer geteilten Intentionalität fähig. Ich kann auf einen Baum zeigen und mein Gegenüber weiß, dass wir beide uns dann auf den Baum beziehen, dass es mir um den Baum geht. Eine ihr Kind suchende Mutter in einer Affengruppe wird von anderen, die das Kind sehen, nicht auf das Kind aufmerksam gemacht.

13.   Doch gilt insgesamt: Je weiter die Wissenschaften voranschreiten, desto unklarer wird die Tier-Mensch-Differenz. Es fällt immer schwerer, genau und präzise zu sagen, was den Menschen von dem Tier unterscheidet. Wir müssen heute bescheidener sein.

Fazit: „Was ist der Mensch?“ – Plädoyer für Neugier und Offenheit statt endgültiger Antworten

14.    Zu welchem Ergebnis kommen die Raumfahrer mit Down-Syndrom? Sie interessieren sich für die Frage, wie es den Menschen mit Down-Syndrom geht! Sie haben keine große These, sondern beobachten einfach den Alltag. Wie ist der Alltag von Menschen mit Down-Syndrom gestaltet. Was können sie, was können sie nicht? Wenn man diese Beobachtungen zusammen nimmt, so hat man schon recht weitgehende Antworten auf die Frage: „Was ist der Mensch?“ Doch ist diese Antwort keine eindeutige im Sinne einer Formel oder begrifflichen Bestimmung. Die Antwort gleicht eher einer Erzählung: So und so ist es.

15.    Mir scheint es sehr wichtig zu sein, nur vorläufige Antworten zu geben. Es wird niemals eine Zeit geben, an denen Menschen einen Schlussstrich ziehen und sagen: Das ist die Definition des Menschen. Es ist sehr wichtig, bei allen Antwortversuchen die Frage offen zu halten. Man muss sich flexibel halten, immer wieder neue Antworten zu finden.

16.    Denn immer dann, wenn man in der Vergangenheit die Frage definitiv zu beantworten versuchte, drohte das Verhalten anderen gegenüber unmenschlich zu werden. Der Mensch wird immer dann unmenschlich, wenn er sich selbst zu finden glaubt! Wer die Frage „Was ist der Mensch?“ abschließend beantworten kann, hat die Frage: „Was ist der Mensch“ nicht verstanden.

17.    Denn mit einer festen Vorstellung von dem, was der Mensch sei, setzt auch die Ausgrenzung ein.  Dann wird der Mensch von dem Nichtmenschen unterschieden. Wir haben alle viele Beispiele vor Augen. Am schlimmsten war ohne Zweifel die dunkle Zeit des Faschismus. Es ist ein Verdienst der Ausstellung "touchdown", dass diese Zeit nicht ausgespart wird. Denn hier kann man erkennen, was alles auf dem Spiel steht, wenn man zu leichtfertig mit der Frage nach dem Menschen umgeht. Menschen können mit einer Inbrunst der Überzeugung anderen Menschen ihr Menschsein aberkennen.

Die wichtigsten Eigenschaften des Menschen lassen sich nicht messen

18.    Der Mensch ist ein großes Wunder und sich selbst immer ein Rätsel. Es ist extrem schwierig, Eigenschaften zu benennen, was den Menschen zum Menschen macht. Genau besehen gibt es deshalb auch keine Norm, sondern nur Abweichungen. Ein statistisches Mittel ist aussagelos, denn die wichtigsten Eigenschaften des Menschen lassen sich nicht messen. Wie misst man Liebe? Wie misst man Vertrauen? Wie misst man Treue? Wie misst man Hoffnung?

19.   Vielleicht ist die beste Art und Weise mit der Frage umzugehen, dass man sie offen hält und neugierig bleibt.

Wer nur den einzelnen Menschen sieht, sieht ganz viel nicht

20.    Zum Schluss möchte ich noch einen Vorschlag machen, wie man mit der Frage „Was ist der Mensch?“ umgehen kann. Die erste Regel ist: Wenn man die Frage nach dem Menschen stellt, darf man sich nicht vor dem geistigen Auge einen einzelnen Menschen vorstellen. Wer einen einzelnen Menschen sieht, sieht ganz viel von dem Menschsein nicht. Wir Menschen kommen nämlich nie als Einzelwesen vor, sondern als soziale Wesen, die in bestimmten Familien aufwachsen, die bestimmte Sprachen sprechen, die in einer bestimmten Kultur aufwachsen. Kein Mensch könnte völlig isoliert existieren (noch wäre er geboren worden).

… denn der Mensch ist ein Beziehungswesen

21.    Wir Menschen bilden vielmehr ein enges Geflecht von Wesen, die nur in ihrem Miteinander bestimmte Eigenschaften haben. Die wichtigsten Eigenschaften zeigen sich, wenn wir miteinander in Kontakt sind. Der Mensch ist ein Beziehungswesen.

22.     Wir alle waren und sind darauf angewiesen, dass sich Menschen um uns kümmern, dass sie uns in ihre Gemeinschaft aufnehmen. Da ist zunächst die Familie, aber da sind auch die Freundinnen und Freunde. Biologische wie auch kulturelle Eigenschaften weisen in dieselbe Richtung.

23.    Kein Mensch hat die Sprache erfunden. Sprache entstand und entsteht, weil viele Menschen miteinander in einen intensiven Austausch kommen. Sprache ist nichts, was man einem einzelnen Menschen zuweisen könnte. Sprache ist vielmehr etwas, was nur entsteht, wenn viele Menschen etwas miteinander teilen.

24.    Diese Aussagen klingen vielleicht erst einmal nur human und freundlich, aber sie stehen für ein komplett anderes Menschenbild als jenes, das bei einem einzelnen Exemplar ansetzt. Viele Eigenschaften des Menschen lassen sich nicht erklären, wenn man bei einem einzelnen Menschen ansetzt, weil dieser einzelne Mensch zu schnell zu einem zu bestimmenden Objekt wird. Dann ist aber schon Entscheidendes ausgeblendet, denn wir sind immer auch Subjekte unserer Bestimmung und unseres Lebens.

Die Würde ist etwas, was alle Menschen miteinander teilen

25.    Ein Beispiel sei die Menschenwürde. Ich gehe davon aus, dass der Mensch tatsächlich Würde hat. Manche sind ja der Ansicht, die Würde sei eher eine Art Übereinkunft oder eine kulturelle Vereinbarung. Ich möchte dagegen davon ausgehen, dass die Menschenwürde existiert, so wie es Sprache gibt. Doch wo genau ist die Menschenwürde? Nehmen wir ein Exemplar der Gattung homo sapiens und stellen es vor uns hin. Wir können diesen Menschen nach allen Regeln der wissenschaftlichen Kunst und mit allen zur Verfügung stehenden Instrumenten analysieren – wir werden die Menschenwürde nicht finden. Existiert sie also doch nicht? Ich vermute, wir werden nur dann der Menschenwürde auf die Spur kommen, wenn wir uns erinnern, dass wir selbst, die wir den Menschen untersuchen, selber Menschen sind! Wir teilen etwas mit ihm, was allen Untersuchungen voraus geht. Dazu gehört auch die Würde. Wir erwerben die Würde nicht irgendwann. Die Menschenwürde zeigt sich nur, wenn man darauf schaut, was man immer schon mit anderen Menschen gemeinsam hat, schon bevor wir auch nur ein Wort lernen konnten.

Erst Gemeinschaft mit anderen bringt uns zu uns selbst

26.    Die Gemeinschaft mit anderen Menschen ist keine Kleinigkeit, keine hilfreiche Ergänzung oder Hilfe, sondern macht uns Menschen erst zu Menschen! Wenn wir uns nur als ein einzelnes Exemplar einer Spezies sehen, werden wir nicht zu uns selbst kommen. Das geht nur, wenn wir uns auf andere einlassen und wenn wir erkennen, wie weit wir uns immer schon von anderen her verdanken.

27.    Die Raumfahrer der Ausstellung touchdown ist dieser Gemeinschaftsgedanke sehr wichtig. Sie kommen schließlich auch zu dem Ergebnis, dass Gemeinschaft von großer Bedeutung ist, um zu verstehen, wie Menschen mit Down-Syndrom auf der Erde leben. Der Raumfahrer LAponion sagt kurz und bündig:
„Familie ist sau sehr wichtig“. Dem ist nichts hinzuzufügen!