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Ein evangelisch-demokratisches Plädoyer für Europa

Superintendentin Dr. Ilka Werner

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Die Idee von Europa steht auf dem Spiel. Risse werden tiefer. In dieser Zeit solle gerade die Evangelische Kirche die Vision einer menschenfreundlichen und gemeinsamen Zukunft lebendig erhalten, meint Superintendentin Dr. Ilka Werner.

Besuchen Sie Europa … - ein demokratisches Plädoyer
von Superintendentin Dr. Ilka Werner

 

Besuchen Sie Europa, solange es noch steht – so sang und textete 1983 die Gruppe „Geier Sturzflug“ in dem Jahr, in dem ich Abitur gemacht habe. Damals ging es um Nach- und Aufrüstung im noch ziemlich kalten Krieg und die Angst vor dem atomaren Erstschlag. Europa, so fürchteten viele, wäre der Schauplatz und das Schlachtfeld, die von den Mittelstreckenraketen aus Ost und West verwüstet würden.

Es gab große Demos für Freiheit und für Demokratie und eine breite – auch kirchliche – Friedensbewegung in West und Ost, die Visionen einer besseren Welt hervor- und die innerdeutsche Mauer zum Schwanken brachte.

Dann fiel die Mauer ganz und es kam zur deutschen Wiedervereinigung. Ein größeres Europa entstand, die Grenzen öffneten sich und der Euro wurde eingeführt. Es schien, als würde ein großes Versprechen der Nachkriegszeit wahr. Es schien so, und für einige, für viele, war es auch so. Aber längst nicht für alle. Und während die Mauer abgerissen wurde und der Riss durch Deutschland vernarbte, aber nicht heilte, tat sich ein anderer Riss auf, der zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung. Und noch einer brach auf, der zwischen Alteingesessenen und eingewanderten Ausländern, und nach dem 11. September 2001 ein Riss zwischen dem Westen und einem radikalisierten Islam. Noch mehr Risse entstehen, zwischen denen etwa, die Bildung haben und nutzen, und den sogenannten bildungsfernen Schichten. In den letzten Jahren die Verwerfungen zwischen denen, die hier leben, und Geflüchteten, die hier Zuflucht suchen und mehr und mehr zur Projektionsfläche vieler dieser Risse wurden. Nun leben wir in einer zerrissenen Gesellschaft und es fehlt vielen die Orientierung. Alle merken, dass wir die Risse, die in den letzten 30 Jahren entstanden sind, politisch nicht verstanden und sozial nicht bewältigt und auch nicht wirksam überbrückt haben.

Und alle reagieren darauf. Die einen, indem sie sich auf scheinbar natürliche Bezugsgrößen wie Volk, Nationalstaat, Familie und Herkunft berufen und der Vielfalt Grenzen setzen wollen. Die anderen, indem sie auf die Individualität der Einzelnen setzen und die Bereicherung durch Begegnung und kulturelle Vielfalt betonen und die offene Gesellschaft verteidigen.
Für die einen ist der Hinweis darauf, dass die vermeintlich natürlichen Dinge eine historische Konstruktion sind und dass einfache Antworten nicht ausreichen, ein rotes Tuch oder links-grün versifftes Denken. Für die anderen ist der Hinweis auf Überforderung und das Gefühl mancher Personen und ganzer Gegenden, einfach abgehängt zu sein, ein Ausweis von Larmoyanz und rechtem Radikalismus. Grundsätzliche Menschenfreundlichkeit wird als Gutmenschentum ebenso verunglimpft wie die Grenzen des Machbaren als Kaltherzigkeit und Egoismus.

Längst leben die einen wie die anderen und ihre jeweiligen Untergruppierungen in ihren eigenen Echoblasen und so relativieren und korrigieren sich die Ansichten nicht durch Auseinandersetzungen beim Bier oder Wein und auch nicht im geteilten Alltag. Da, wo man sich doch begegnet, erlebt man im Betrieb beim Smalltalk in der Pause den ehemals vertrauten Kollegen verwirrt als fremd oder hört entsetzt und zufällig ein paar Worte, die die langjährige Verkäuferin beim Discounter mit ihrer Freundin wechselt. Wie, du? Ach, die? So was! Hätte ich nie gedacht. Die Risse werden tiefer.

Viele empfinden sie als unüberbrückbar. Und plötzlich steht Europa auf dem Spiel. Die Idee von Freiheit und Freizügigkeit. Die Praxis von Repräsentation und Mitbestimmung. Das Ideal von Völkerfreundschaft und Solidarität. Das Vertrauen auf Rechtssicherheit und Barmherzigkeit.

Jetzt kommt es darauf an, die Versprechen auf Teilhabe einzulösen, die Sprache zu zügeln und die Zunge zu hüten, Orte und Medien gemeinsamen Gesprächs und Erlebens zu suchen, bereit zu sein, sich das Gemeinwohl etwas kosten zu lassen, Erzählungen und Visionen einer gemeinsamen Zukunft zu erfinden und die Verantwortung für die Fehler und Irrwege der Vergangenheit gemeinsam zu übernehmen.
Es kommt darauf an, die europäische Geschichte weiterzuschreiben, ein neues Kapitel einer verbindlichen und weltoffenen Perspektive für die Zukunft. Es braucht dazu eine gemeinsame Anstrengung der Politik, der Medien, der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft, der Kirchen, und vieler Einzelner, Alteingesessener wie Zugewanderter.

Oft wird dazu beschworen, was es historisch nie gegeben hat: das christliche Abendland. Die vermeintliche territoriale und religiöse Geschlossenheit Europas hat so nie existiert und hatte immer nur Konjunktur, wenn es galt, Fremdes oder Fremde auszugrenzen. Den Kirchen wurde dabei die schmeichelhafte Rolle zugewiesen, die religiöse und kulturelle Identität und die verbindenden Werte maßgeblich zu bestimmen. Diese Rolle haben sie aber unzweifelhaft längst verloren: schon lange gehört nicht mehr die große Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen einer christlichen Kirche an.
Vielleicht ist aber gerade deshalb die Evangelische Kirche die Richtige, die visionäre Kraft dessen, was das christliche Abendland hätte sein können und noch werden könnte, zu beschreiben. Denn sie ist entstanden aus dem Protest gegen eine diktatorische Kirchenhierarchie. Sie hat selber der Versuchung, Thron und Altar mächtig zu verbünden, nicht widerstanden, und darum Grund genug, politischen Versuchungen gegenüber selbstkritisch und wachsam zu sein. Oft genug ist sie in lebenspraktischen Fragen einfach dem Zeitgeist nachgelaufen und musste bitteres Unrecht bereuen. Mühsam hat sie daraus gelernt, nicht Gottes Stellvertreterin auf Erden, sondern die erste Hörerin seiner Botschaft zu sein. Lange hat es gedauert, bis sie in den allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechten eine säkulare Reformulierung der Gottebenbildlichkeit der biblischen Schöpfungsgeschichte erkennen konnte. Und obwohl sie seit Jahrhunderten selbst partizipatorisch organisiert ist, hat sie nur schwer die Demokratie anerkennen können als die dem Evangelium gut entsprechende Staatsform.

Gerade diese eigene Geschichte lässt sie jetzt für das einstehen, was das christliche Europa ausmachen muss: Die Beharrung auf der Würde des Individuums und die Parteilichkeit für die Einzelnen, denn alle Menschen sind Gottes Geschöpfe und Ebenbilder. Die Erinnerung und Erzählung davon, wie Gottes erwählendes Handeln und Jesu zugewandtes Leben Grenzen überschreitet, denn die Mission der jungen Kirche hat Menschen verschiedener Herkunft und Sprache durch den Glauben zusammengebracht in einer Gemeinde. Die Anerkennung von Verschiedenheit und Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen um der Freiheit des Glaubens und der Gewissen willen. Die Offenheit für die Verfolgten, die Mühseligen und Beladenen, denn die christliche Botschaft ist im Kern Gnade und Barmherzigkeit. Die Einladung an alle, mitzubestimmen, wie Kirche und Gemeinde aussehen und gestaltet werden, denn die Herrschenden in der Kirche sollen Dienende aller sein.
Damit kann die Evangelische Kirche mit Gottes Hilfe eine Hoffnung lebendig erhalten, die über die Sachzwänge der Zeit hinaus auf einen offenen Himmel verweist und darauf, dass einem christlich werdenden Abendland eine gemeinsame, einladende, menschenfreundliche Zukunft blüht.