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"Ist der Mensch böse von Jugend auf?"

2. Solinger Akademietag am 28. April 2018

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Vortrag von Dr. Ilka Werner über Einsichten zu Bibel, Kirche und dem Umgang mit Gewalt  vom 2. Solinger Akademietag am 29. April 2018.

2. Solinger Akademietag „Der unmenschliche Mensch“ am 28. April 2018
Ist der Mensch böse von Jugend auf?
Einsichten zu Bibel, Kirche und dem Umgang mit Gewalt

Manuskript des Vortrags von Dr. Ilka Werner
(es gilt das gesprochene Wort)

Am Ende der Sintflut in der biblischen Urgeschichte gibt Gott sich ein Versprechen: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Aus diesem Vers habe ich den Titel für diesen theologischen Vortrag entlehnt, und ich möchte Ihnen in vier Abschnitten und einem Exkurs vom biblischen bzw. theologischen Zugang zur und vom Umgang mit der Unmenschlichkeit des Menschen erzählen.

Die Abschnitte sind:

  1. Gott im Bund mit der Welt, wie sie ist – zur Anthropologie der Urgeschichte
  2. Gottes Gebot für die Welt, wie sie sein kann – biblische Etappen des Ausstiegs aus der Gewaltspirale
    Exkurs: Sünde, Gesetz und Gnade
  3. Die kirchliche Lehre vom gerechten Krieg – die mächtige Kirche und Gewalt
  4. Kirche des gerechten Friedens werden – die Vision der Gemeinschaftstreue
  5. Schluss

 

1. Gott im Bund mit der Welt, wie sie ist – zur Anthropologie der Urgeschichte

Fangen wir mit dem Anfang an: Die ersten elf Kapitel der Bibel sind die „Urgeschichte“, die die ganze Welt und die Menschheit zeigen, wie sie geworden sind und wie sie sind, bevor mit dem Ruf an Abraham, seine Heimat zu verlassen, die besondere Geschichte Gottes mit seinem Volk beginnt.

Im Anfang hat Gott Himmel und Erde gemacht, und auf der Erde einen Garten, in den er die ersten Menschen, Mann und Frau, und die ersten Tiere setzte. Der Garten war ein friedlicher Ort, ohne Gewalt, ohne die patriarchale Herrschaft des Mannes über die Frau, ohne schweißtreibende Mühe, auch ohne Schlachthöfe, denn Menschen und Tiere waren Vegetarier, und ohne die Trennung, die Entfremdung von Mensch und Gott. Der Garten war so etwas wie die beste aller möglichen Welten. Und Gott sah die Idee paradiesischen Lebens als sehr gut an. Aus seiner Sicht hätte es so bleiben können.

Dass es nicht beim Leben im Garten blieb, das wissen wir. Die Menschen wollten nicht einfach auf Gott hören, das wurde langweilig. Sie wollten sich ihre Lebensregeln selbst geben, sie suchten Herausforderungen, sie wollten ihre Welt entdecken und erobern.

Und sie mussten dazu den Garten verlassen. Selbstständig wurden sie, autonom, sie lernten, zu arbeiten, zu schuften und sich abzumühen, sie lernten, Schmerzen auszuhalten, sie lernten, Glück und Selbstverwirklichung zusammen zu denken. Sie gewannen viel, aber sie verloren auch viel: die Geborgenheit, den unbefangenen Umgang mit ihrem Schöpfer.

Gleich mit der ersten Generation von Menschen jenseits von Eden verwandelt sich die Erde von dem friedlichen Hort des Gartens zu einer Welt von Herrschaft, Gewalt und Verunsicherung. Der Mann soll über die Frau herrschen. Die Bestellung des Ackers soll mühevoll sein und frustrierend. Die Frau soll unter Schmerzen Kinder bekommen.

Kain macht als erster Mensch die Erfahrung, dass seine Arbeit trotz aller Mühe erfolglos ist, und wendet sich in seiner Eifersucht gegen den erfolgreicheren Bruder. Er erschlägt ihn. Die Sünde ist damit in der Welt und Kain kann seinem Schöpfer nicht mehr in die Augen sehen. Zwischen Gott und Mensch stimmt etwas nicht mehr. Über Generationen setzt sich diese Entwicklung fort. Bis Gott der Geduldsfaden reißt: Als er sah, „dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen.“

Die Welt ist nicht, wie sie sein sollte, der Mensch ist unmenschlich und so beschließt Gott, sie zu vernichten.

Eine große Flut wird angekündigt. Nur eine Familie soll überleben, zusammen mit je einem Paar aller Tierarten; mit ihnen möchte Gott neu anfangen. Noah soll überleben. Warum er?

Während die Erde verdorben ist durch die Gewalt der Menschen, die alles ansteckte, heißt es von Noah: er war „rundherum gerecht“ und ging seinen Lebensweg mit Gott. In der Luther-Übersetzung heißt es: er war fromm. Hebräisch heißt es zaddik. Zaddik ist, wie der Alttestamentler Jürgen Ebach in seinem Noah-Buch schreibt, „wer sich gemeinschaftsgemäß verhält, seinen Mitmenschen Solidarität erweist und deshalb auch Anspruch auf Solidarität, Gemeinschaftstreue hat. Biblische Gerechtigkeit ist weniger eine Norm als eine Praxis, und zwar vor allem die Praxis des parteilichen Eintretens für die, denen zum Recht verholfen werden muss“ (Ebach, Noah, 52).

Noah, der als einziger zaddik ist, bekommt den Auftrag, die Arche zu bauen. Er baut, der Regen kommt, die Erde versinkt, und als die Wasser endlich abfließen, setzt die Arche auf einem Berg auf und Noah und die Seinen und alle Tiere verlassen gerettet das Schiff. Noah baut einen Altar, und bringt Gott Dankopfer dar.

Und Gott sagt zu sich: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um des Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was lebt, wie ich getan habe.“

Hier müssen wir einhaken: Wie sollen wir das verstehen? Ein fast gleichlautender Satz war die Begründung für die Flut, und nun lässt Gott die Geschichte neu anfangen, und geht davon aus, muss davon ausgehen, dass die Menschen nicht wesentlich anders werden.

Nicht die Menschen, sondern Gott ändert sich: Weil die Welt nicht so war, wie sie sein sollte, zerstörte er sie, wie ein enttäuschter Idealist. Jetzt sagt er sich: Ich will sie so nehmen, wie sie ist. Ich nehme die Erde und die Menschen so, wie sie sind. Gott wird Realist.

In diesem „nachsintflutlichen Realismus Gottes“ werden die Umrisse der biblischen Anthropologie sichtbar:

Der Mensch ist nicht die Mitte des Ganzen, die Bibel denkt nicht anthropozentrisch: Gott will die Erde nicht mehr um des Menschen willen verfluchen.
Der Mensch ist böse von Jugend auf, aber nicht von Geburt an, die Bibel denkt nicht deterministisch: Bosheit wird gelernt, kann wieder verlernt werden und Menschen brauchen Grenzen und Anleitung (das sieht übrigens auch der Koran ähnlich).
Es kommt für den Menschen darauf an, zaddik, also gerecht im Sinne von gemeinschaftstreu zu leben; die Bibel denkt relational: Gerechtigkeit ist eine Beziehungskategorie, Gewalt eine Beziehungszerstörungshaltung.
Gott schließt mit der Erde und den Menschen einen Bund, er bindet sich an Erde und Menschheit, damit die Welt, die Gewalt enthält, nicht von Gewalt bestimmt ist, die Bibel denkt „theopraktisch“: Gottes erste, die noachidischen Gebote begrenzen menschliche Gewalt und erlauben es den Menschen, Tiere zu essen, aber nicht die absolute Verfügung über Tiere (Blut als Sitz des Lebens bleibt tabu); sie verbieten die Tötung von Menschen, weil diese – alle! – Abbild Gottes sind. Gott selbst hängt – im Gegenzug - seinen Bogen (gemeint ist sein Kriegsbogen) in die Wolken, zur Erinnerung an sein Versprechen, die Schöpfung nicht mehr zu vernichten, aber auch als Erinnerung an die gewesene Katastrophe, daran, dass die Welt nicht mehr heil, nicht mehr sehr gut ist.

Ist also der Mensch, biblisch gesehen, böse von Jugend auf? Nach der Urgeschichte müssen wir antworten: Ja. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.

2. Gottes Gebot für die Welt, wie sie sein kann – biblische Etappen des Ausstiegs aus der Gewaltspirale

In den Gebots- und Gesetzestraditionen der Bibel bis hin zu den jesuanischen Akzenten bleibt der realistische Blick der Urgeschichte erhalten: Zur Welt und zum Leben des Menschen gehört Gewalt dazu, aber sie darf das Leben und die Welt nicht bestimmen, sie soll begrenzt und eingehegt werden, und zwar durch die Gemeinschaft bestimmende und schützende Gebote.

Zu den ältesten Geboten der Gewaltbegrenzung gehört die berühmte Formel: „Auge für Auge, Zahn für Zahn“, die biblisch in allen drei großen Gesetzeswerken der Mose-Bücher überliefert ist (Ex 21, 23-25; Lev 24, 19.20, Dtn 19,21) und sich auch im babylonischen Codex Hammurabi findet. Die Pointe der Formel ist die Begrenzung der Blutrache und die Gleichstellung der Geschädigten, nicht die Aufforderung zur Vergeltung – so wird im Zusammenhang die Todesstrafe für das Töten eines Menschen erlassen und festgelegt: „Entsprechend des Schadens, den eine Person einer anderen zufügt, soll ihr Schaden zugefügt werden“ (Lev 24, 20 BigS). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Genugtuung für erlittenen Schaden bahnt den Weg, Gewalt mit Schadensersatz zu sühnen und nicht verletzte Ehre vielfach zu rächen.

Von den 10 Geboten gehört nicht, wie man vielleicht denken könnte, nur das Tötungsverbot in diesen Zusammenhang. Unehrerbietigkeit gegenüber der älteren Generation, üble Nachrede, Diebstahl, sexuelle Untreue und neidische Übergriffe stellen gemeinschaftsschädigendes Verhalten dar und Vorstufen oder Anlässe von eskalierender Gewalt. Gottesvergessenheit, Vereinnahmung Gottes sowie Ignoranz gegenüber der Unterscheidung von heilig und profan sind Hinweise darauf, dass Menschen „sein wollen wie Gott“ und gewaltsam ihren Einflussbereich entgrenzen. Dagegen bilden die Gebote ein Geländer der Gemeinschaftstreue, der Gerechtigkeit. Wer zaddik, gerecht, sein will, achtet die Gebote.

Bemerkenswert ist, dass die häufigsten Gebote in der Bibel Schutz und Rechtsgleichheit von Fremdlingen thematisieren. Darin kommt immer wieder unmissverständlich zum Ausdruck, dass sich Gemeinschaftstreue und Gewaltbegrenzung nicht ethnisch oder national begrenzen lassen, sondern sich universal auf die ganze Welt und alle Menschen bezieht.

Im neuen Testament finden sich die bekanntesten und wohl wichtigsten Referenztexte für Gewaltbegrenzung in der Bergpredigt: Geboten werden der Verzicht auf Gegengewalt und die Feindesliebe. Beides stellt eine Steigerung, nicht aber einen Gegensatz zu den bisher bekannten Geboten dar.

Jesu Gebot zum Verzicht auf Gegengewalt lautet in der Übersetzung nach Luther so: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „’Auge um Auge, Zahn um Zahn’. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar.“ Dann folgen noch zwei weitere Sätze über den Mantel, den man zum abgeforderten Hemd geben soll, und die Meile, die man über die abgenötigte hinaus mitgehen soll – aus Zeitgründen gehe ich aber nur auf die erste Modellsituation ein. Überschrieben ist der Abschnitt, auch noch in Luther 2017, „Von der Vergeltung“ und lädt damit zu einem Missverständnis des alttestamentlichen Gebotes ein. Die Wirkungsgeschichte des „die andere Wange Hinhaltens“ ist fatal – wurde der Satz doch immer wieder benutzt, sowieso schon Unterlegene zum Verzicht auf Widerstand und zur Duldung von Gewalt zu verdonnern. Sklaven, Frauen, Kinder, Abhängige wurden damit zur Räson gebracht. Es lohnt sich, andere Übersetzungen zu vergleichen. In der BigS heißt es: Ihr habt gehört, dass Gott gesagt hat: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich lege euch das heute so aus: Leistet dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln Widerstand. Vielmehr, wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, halte ihm auch die andere Backe hin.“ In dieser Übersetzung wird erkennbar, dass der Satz nicht ein Duldungsgebot, sondern eine Anleitung zur Friedenspraxis ist; der Unterschied zwischen Widerstand und Gegengewalt wird deutlich, und auch, dass das Hinhalten der anderen Wange nur dann etwas bewirkt, wenn unter normalen Bedingungen zu erwarten wäre, dass der Geschlagene zurückschlägt. Die Wirkung dieses Verhaltens beruht darauf, dass jemand erkennbar auf Gewalt und Gegenwehr verzichtet. Wer aufgrund von Schwäche oder sozialer Abhängigkeit sowieso nicht zurückschlagen kann oder darf, bestätigt durch das Hinhalten der anderen Wange nur die Macht des Aggressors. Wenn aber jemand, der sich normalerweise wehren würde, gerade durch den Verzicht auf Gegengewalt Widerstand leistet, passiert etwas Unerwartetes und die Spirale der Gewalteskalation kann durchbrochen werden.

Ähnlich verhält es sich mit dem Gebot der Feindesliebe. Über den natürlichen Reflex und das bestehende Gebot zur Nächstenliebe hinaus sagt Jesus: „Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.“ Auch hier geht es um eine Friedenspraxis, die erwartbare Reaktionen und Muster durchbricht und die darum Gewalt begrenzen kann.

Jesus selbst hat diese widerständige und gewaltlose Friedenspraxis gelebt (Bsp: Joh 8, Begegnung mit der Ehebrecherin) und sie immer wieder mit dem beginnenden und erwarteten Reich Gottes in Verbindung gebracht, in dem keine Gewalt mehr sein soll und in dem die Entfremdung zwischen Gott und Mensch, die mit dem Verlassen des anfänglichen Gartens ihren Anfang nahm, durch Versöhnung überwunden wird.

In den Geboten spiegeln sich anthropologische Einsichten, die die andere Hälfte der Wahrheit über den Menschen aussagen:

Gewalt und Aggression existieren, die Bibel bleibt realistisch: Dass es Gebote gibt, zeigt: es braucht Verhaltensregeln, um Begrenzung der Gewalt und Gemeinschaftstreue zu gewährleisten.
Gewaltbegrenzung und Überwindung von Unmenschlichkeit sind möglich, die Bibel bleibt optimistisch: Gebote können zeigen, wie die Logik der Gewalt überwunden und Solidarität gelebt werden kann.
Gewalt wird nicht das letzte Wort haben, die Bibel entfaltet eine Utopie des Reiches Gottes: Gott wird abwischen alle Tränen, und Tod, Schmerz Leid und Geschrei wird nicht mehr sein.

War „Der Mensch ist böse von Jugend auf“ die eine Hälfte der anthropologischen Wahrheit der Bibel, so lautet die zweite Hälfte: „Der Mensch kann Friedensstifter werden“.

Exkurs: Sünde, Gesetz und Gnade

Vielleicht wundern Sie sich, dass ich bisher relativ wenig von Sünde geredet habe. Das liegt daran, dass sich so viel Missverständnis und Halbwahrheit mit dem Begriff verbindet. Es beginnt damit, dass wir gewohnt sind, das dritte Kapitel der Bibel mit „Der Sündenfall“ zu überschreiben. Dabei kommt das Wort „Sünde“ nicht vor, und „Fall“ auch nicht. „Sünde“ taucht erst im vierten Kapitel auf, als Gott vor dem Brudermord mit Kain redet und ihm – vergeblich – einschärft, die vor seiner Tür lauernde Sünde in Schach zu halten. Von Sünde ist im Zusammenhang mit der Tötung eines Menschen zum ersten Mal die Rede – im Zusammenhang mit Gewalt und nicht im Zusammenhang mit dem Übertreten eines Ernteverbotes!

Warum es mir wichtig ist, darauf hinzuweisen? Weil sich schon in dieser Beobachtung zeigt, dass die Bibel nicht jede Eigenmächtigkeit des Menschen „Sünde“ nennt. Darum hat die später in der Theologie Augustins aufkommende Rede von der „Erbsünde“ in der Bibel keinen Anhalt, wenn sie als grundsätzliche Verderbtheit des Menschen von der Zeugung an verstanden und zum Kronzeugen eines „pessimistischen“ Menschenbildes wird.

Wenn Kain der erste Sünder ist, heißt das doch: Sündig ist, wer sich der Gewalt ergibt, wer nicht zaddik ist, wer Gemeinschaft zerstört. Und wer Gemeinschaft mit einem Menschen zerstört, zerstört auch die Gemeinschaft mit Gott. Von Erbsünde kann sinnvoll in dem Sinne geredet werden, dass alle Menschen auch ohne eigenes Tun verstrickt sind in die Herrschaft der Gewalt, und darum nicht zaddik sind, das zeigt die epidemische Ausbreitung des Bösen in den Generationen zwischen Kain und Noah. Dass mit Noah aber einer kommen konnte, der zaddik ist, zeigt, dass der Urgeschichte an dogmatischen Prinzipien nicht gelegen ist.

Es ist Paulus, der diesen Zusammenhang als erster systematisch zu durchdringen versucht:

Nach seiner Einsicht – formuliert im dritten Kapitel des Römerbriefes – sind alle Menschen in der Gewalt der Sünde. Und: Kein Mensch gilt vor Gott als gerecht, weil er das Gesetz befolgt. Gesetzestreue macht also nicht zaddik, sie führt vielmehr zur Erkenntnis der Sünde. „Aber jetzt“, so führt Paulus aus, „ist Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden, und zwar unabhängig vom Gesetz. (…) Es ist der Glaube an Jesus Christus, der uns die Gerechtigkeit Gottes zugänglich macht. (…) Alle (…) verdanken es also allein seiner Gnade, dass sie von Gott als gerecht angenommen werden.“ (Röm 3, 21-24a)

Ohne Gottes Gnade wird aus der menschlichen Neigung zur Sünde und dem Gesetz, das der Gewalt Grenzen setzen soll, und der daraus entstehenden Erkenntnis der Sünde ein geschlossenes System, das immer enger und lebensfeindlicher wird und aus dem wir nicht herausfinden. Die Gnade erst rückt alles an seinen Ort und schafft Balance.

Wenn ich eben gesagt habe, dass die halbe Wahrheit der Bibel zum Verhältnis des Menschen zur Gewalt ist, dass er böse ist von Jugend auf, und die andere Hälfte die ist, dass er Friedenstifter werden kann, so müssen wir noch hinzufügen: nur Gottes Gnade kann bewirken, dass die zweite Hälfte realisiert wird und die Oberhand bekommt.

3. Die kirchliche Lehre vom gerechten Krieg – die mächtige Kirche und Gewalt

Das frühe Christentum war in der Nachfolge Jesu eine Religion des Friedens und der widerständigen Friedenspraxis. Persönliche Gewalt, aber auch Kriegsdienst von Christen wurde abgelehnt. Das war so lange verhältnismäßig einfach, wie die junge Kirche geduldet oder sogar verfolgt wurde und selbst keine Macht außer ihrer Botschaft hatte.

Mit der konstantinischen Wende aber wird das Christentum Staatsreligion und das Verhältnis der nun zunehmend mächtigen Kirche zur politischen Macht und zur institutionellen wie militärischen Gewalt wird Thema.

Die theologische Reflexion entwickelt die „Lehre vom gerechten Krieg“. Sie formuliert zum ersten Mal ein ausgesprochenes Recht zum Krieg. Das ist gegeben, wenn eine rechtmäßige Autorität einen gerechten Grund und rechtmäßige Absichten verfolgt, die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahrt und den Schutz der Zivilbevölkerung gewährleistet. Das Ziel der Begrenzung von Gewalt bleibt bestehen und wird auch erreicht. Trotzdem wird die Intention der biblischen Gebote und Friedenspraxis umgekehrt: Es geht nicht mehr um den realistischen und begrenzenden Umgang mit Gewalt oder Aggressivität, die eben da ist und zum Menschen bzw. zur Welt gehört, sondern um den rechtmäßigen Gebrauch von Gewalt als Mittel zum Zweck.

Von der Zeit des Kirchenvaters Augustin an hinkt die Theologie in der Frage nach der Gewalt nun auf beiden Seiten: In die grundsätzliche anthropologische Frage nach der Natur des Menschen aus christlicher Sicht mischt sich immer wieder die interessengeleitete strategische Frage nach legitimem Gewaltgebrauch und -einsatz.

Das Wort „gerecht“ wechselt dabei die Bedeutung: es meint nicht mehr zaddik, die konkrete Praxis der Gemeinschaftstreue, sondern wird eine formal und kontextunabhängig formulierbare Norm, die Legitimität definiert.

4. Kirche des gerechten Friedens werden – die Vision der Gemeinschaftstreue

Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges wird die Frage nach dem gerechten Krieg zunehmend abgelöst von dem Paradigma des gerechten Friedens. Schon die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 betonte: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“ Das Leitbild des gerechten Friedens reagiert auf die verheerenden Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts. Es reagiert auch darauf, dass „Krieg“ im 21. Jahrhundert nicht mehr auf einen militärischen Konflikt zwischen zwei oder mehr Staaten reduziert werden kann, sondern auch andere Phänomene wie etwa Terrorismus umfasst. Und es nimmt auf, dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg. Mit dem Leitbild des gerechten Friedens verbindet sich der Auftrag, den Weg zum Ausgleich und zur Versöhnung bewusst einzuüben. Die evangelische Kirche im Rheinland hat auf der Landessynode 2018 mit der Verabschiedung eines Friedenswortes bekräftigt, Kirche des gerechten Friedens werden zu wollen.

Das Leitbild des gerechten Friedens dient menschlicher Existenzerhaltung und Existenzentfaltung und nimmt Aspekte des biblischen Gedankens des zaddik-seins auf: Dazu gehören der Schutz vor Gewalt, die Förderung der Freiheit, der Abbau von Not und die Anerkennung kultureller Verschiedenheit. Deutlich wird: das Wort „gerecht“ wechselt – gegenüber der Lehre vom gerechten Krieg – wieder die Bedeutung und steht für die Dimensionen einer Praxis der Gemeinschaftstreue.

Eine Kirche, die Kirche des gerechten Friedens werden und sein will, nimmt den realistischen und optimistischen Blick der Bibel auf den Menschen auf: Ja, er lässt sich von seinen Aggressionen leiten und zum Bösen verführen. Ja, er kann diese Neigung im Griff haben und Friedenstifter sein. Ja, durch Gottes Gnade kann die Friedensliebe die Oberhand gewinnen. Der letzte Aspekt macht die Rolle der Kirchen deutlich: es braucht ihre Verkündigung der Gnade Gottes. Und es zeigt, warum das Leitbild vom gerechten Friedens nicht eine Lehre ist wie die vom gerechten Krieg, sondern eine umfassende Vision, die nicht ohne Hoffnung, Mut und Widerstandskraft wirklich werden kann. Biblisch gesprochen: Gerechter Friede ist nicht ohne das Reich Gottes, das schon mitten unter uns ist.

5. Schluss

Wenn ich Sie frage: Wer ist nach biblischer Überlieferung der erste Mensch, was antworten Sie dann? „Adam“, vermutlich, oder „Adam und Eva“. Richtig, natürlich. Aber wenn wir noch einmal zurück zur Urgeschichte gehen und von vorne an lesen, so stoßen wir darauf, dass im zweiten Kapitel des ersten Buches Mose, nachdem schon von der Schöpfung erzählt wurde, innegehalten wird und die Geschichte noch mal erzählt wird. Hier heißt es: „Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte. Und alle Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen (…) und kein Mensch war da, der das Land bebaute.“ Der Mensch wird vor seiner Erschaffung dadurch charakterisiert, dass er das Land bebauen soll. Der erste, von dem aber gesagt wird, dass er das tut, ist Kain, von dem es heißt: Er war Ackerbauer. In gewisser Hinsicht ist also Kain der erste Mensch. Und, so haben wir oben gesehen, der erste Gewalttäter.

Der Mensch ist, biblisch gesehen, von der Generation an, die außerhalb des Gartens Eden geboren wird, von der Sünde belauert. Gewaltbereitschaft, Aggression und Hass, überhaupt destruktive Kräfte stecken in ihm, genauso aber die Fähigkeit, diese Triebe zu beherrschen. Wir können Friedensstifter und Friedensstifterinnen werden. Gottes Gnade schenkt uns, zaddik zu sein, solidarisch mit den Mitmenschen und gemeinschaftstreu.