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08.11.2018

Tom und die andern

Kirche in WDR3 | 08.11.2018 | 05:00 Uhr

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Kirche in WDR3 | Reinmuth

Guten Morgen!

Sie kommen alle zusammen. Etwa 20 Jugendliche fahren mit ihren Mopeds vor, biegen auf die Parkplätze ein, bremsen, und als der letzte steht, lassen sie einmal alle zusammen laut die Motoren aufheulen. Das ist ein Zeichen: Wir sind da. Wir halten zusammen. Wahrscheinlich auch: Wir sind wütend. Denn einer von ihnen, Tom, siebzehn Jahre alt, ist fünf Tage zuvor auf der Landstraße tödlich verunglückt. Wie jeden Mittwoch ist er mit seinem Moped zur Berufsschule gefahren. Der Autofahrer, der ihm entgegenkommt, schneidet die Kurve, einfach so. Tom hat keine Chance. Er ist sofort tot.

Die Jungs nehmen ihre Helme ab, kommen in die Kirche und setzen sich ganz vorne rechts in die ersten drei Reihen. Vor ihnen der Sarg und ein Bild von Tom auf seinem Moped. Die Kirche füllt sich bis fast auf den letzten Platz. Wir halten Trauerfeier. Ich habe Steine und Kerzen mitgebracht. Wer mag, kann später an den Sarg treten und eine Kerze aufstellen. Oder eben einen Stein ablegen. Als Zeichen für die eigene Wut, das Unverständnis, den Protest. Es werden mehr Steine als Kerzen. Denn die meisten empfinden: Das ist nicht gerecht. Hier ist ein unfassbares Unrecht geschehen. Dem Jungen, der das Leben doch noch vor sich hatte, der Familie, die den Schmerz ertragen muss, den Freundinnen und Freunden, die Tom vermissen.

„Es hat Gott, dem Herrn, ganz und gar nicht gefallen, ihn aus diesem Leben abzurufen...“ habe ich bei ähnlichen Todesfällen den Pfarrer schon sagen hören.

Eine Anspielung auf einen Text des Schweizer Pfarrers und Poeten Kurt Marti. Ich selbst habe ein fünfjähriges Mädchen beerdigt, das schwer krank war, einen 25-jährigen Mann, der sich das Leben genommen hat, einen 41-Jährigen, der vom Baugerüst gestürzt ist. Alle habe ich noch genau vor Augen. So wie Tom. Aber kann man das sagen: „Es hat Gott nicht gefallen, ihn aus diesem Leben abzurufen“? Ich weiß nicht. Uns gefällt es manchmal nicht, das ist klar. Wir sind oft nicht einverstanden, das verstehe ich. Aber ich kann der Mutter des fünfjährigen Mädchens oder des siebzehnjährigen Jugendlichen doch nicht sagen, es sei irgendwie ein religiöser Unfall passiert, die Engel Gottes hätten wohl nicht richtig aufgepasst. Nach dem Motto: keine Sorge, wird nicht wieder vorkommen, hat Gott auch nicht gefallen. Ich kann auch nicht sagen, das Leben ihres Kindes sei nicht sinnvoll gewesen, da habe etwas gefehlt, weil es so kurz war. Denn das ist ja wohl die Botschaft: Dieses Leben war unvollständig, deshalb hat es Gott nicht gefallen, dass Tom diesen Unfall hatte oder dass Sophie so schwer krank war. Aber die beiden haben ja gelebt! Sie haben Spuren hinterlassen, sind geliebt worden, waren kreativ, hatten Freunde,... Wann ist denn dann ein akzeptabler Zeitpunkt? Wer wollte den festlegen?

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ – so heißt es in einem Psalm in der Bibel. Eine Krankheit oder ein Unfall können mir das Leben nehmen, das vor mir liegt, aber nicht das, was ich gelebt habe. Ich stelle mir vor, wie Gott über jedes Leben sagt: Du hast gelebt, dein Leben ist sinnvoll und wertvoll gewesen. Egal wann jemand stirbt, ob mit fünf Jahren, mit 81 oder eben mit siebzehn – so wie Tom. Deshalb kann ich Gott nur bitten: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

Ihr Titus Reinmuth, Rundfunkpfarrer aus Wassenberg.

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