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31.10.2017

500 Jahre Reformation – und jetzt?

Persönlicher Blogbeitrag von Jörgen Klußmann zum #Reformationstag

Artikelbild Straßenbahn-Haltestation-Wittenberg. Foto: Thomas Reimer - Fotolia.com 
Das Reformationsjubiläum nähert sich seinem Ende – Die Reaktionen und vorläufigen Resümees fallen gemischt aus. Angesichts eines weiter anhaltenden Rückgangs an Mitgliedern der ehemals großen Volkskirchen herrscht vielerorts Ratlosigkeit. Was ist passiert?

Die großen Themen wie Atomausstieg, Abrüstung und Frieden, die noch in den 80er und 90er Jahren Millionen von Menschen beschäftigten und mit denen die Kirchen ihre Mitglieder mobilisierten, locken nur noch wenige hinterm Ofen hervor. Die Heilsversprechen, wie z.B. das von der Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges oder das eines neuen Zeitalters der Toleranz im Zeichen eines multikulturellen Miteinanders wurden nicht eingelöst – im Gegenteil.

Große gesellschaftliche Herausforderungen, aber nur begrenzte Gestaltungsmacht der Kirchen
Dabei sind die Herausforderungen heute noch viel größer – die Zahl der Konflikte steigt weltweit wieder an, neue Atommächte wie z.B. Nordkorea bedrohen die internationale Sicherheit, Waffen, vor allem Kleinwaffen, werden in die ganze Welt verkauft und ein neuer religiös geprägter Fundamentalismus breitet sich immer weiter aus. Gleichzeitig werden die kulturellen, religiösen und nationalen Grenzen durch Digitalisierung, Globalisierung und Migration in Frage gestellt. Doch mit den neuen Herausforderungen werden auch die Grenzen des politischen Einflusses und damit auch die gesellschaftspolitische Bedeutung der Kirchen immer deutlicher. Gleiches kann man aber auch von der Politik und anderen Institutionen behaupten, die für Werte und eine gerechte Ordnung eintreten. Das Problem ist, dass sich aber nichts Erkennbares ändert, sondern sich für viele die Situation eher verschlechtert hat. Die ehemals breite  Mittelschicht in Deutschland und anderen Industrieländern wird schmaler und schmaler.

Auch spirituell können die Kirchen heute die Menschen nur noch schwer erreichen
Doch während die Politikverdrossenheit Populismus und Extremismus Tür und Tor geöffnet hat, trifft der Bedeutungsverlust der Kirchen diese im Kern, denn bereits neben dem Vertrauensverlust, der durch die Missbrauchsaffären noch beschleunigt wurde, tun sich die Kirchen auch noch schwer, die Menschen zumindest spirituell zu berühren. Angesichts der protestantischen Praxis, die auch die Katholiken längst erreicht hat, das Wort in den Mittelpunkt zu stellen, erscheint die religiöse Praxis mitunter reichlich kopflastig. Die Sprache Luthers, die seinerzeit revolutionär war, weil sie für den einfachen Mann und die einfache Frau verständlich und eingängig war, ist heute gerade bei jüngeren Menschen nicht mehr anschlussfähig. Die Lieder und die Rituale erscheinen den meisten Menschen nicht mehr zeitgemäß und überholt und die Theologie ist für den Laien inzwischen ein Buch mit sieben Siegeln geworden. Davon profitieren insbesondere die freien Kirchen, die mit ihren offenen und gemeinschaftlich progressiven Formen des Gottesdienstes zumindest eine Heimat für Menschen bieten, die sich allein fühlen. Leider vermitteln diese Kirchen aber häufig eher ein eindimensionales Weltbild, in dem andere Religionen oder andere Vorstellungen keinen Platz haben oder eher abgelehnt werden.

Wie ist es dazu gekommen?
Dabei bieten die Vielfalt des Lebens und die unterschiedlichen Vorstellungen von Gott und der Schöpfung mit all ihren kulturellen Ausprägungen eine reichhaltige Projektionsfläche für Toleranz und Offenheit. Wie ist der Mensch im Angesicht Gottes und seiner vielfältigen Schöpfung so kleinlich, engstirnig, intolerant und uninspiriert geworden? Haben der Individualismus mit dem Vorrang des Schutzes der Freiheit des Einzelnen vor dem Schutz des Kollektivs dazu geführt, dass es keine Gemeinsamkeiten mehr gibt und die Freiheit des Einzelnen vor allem darin besteht, möglichst viel zu konsumieren? Darf jeder seine eigenen Marotten zum Standard erklären, egal, was dies für Folgen hat, wie z.B. dass selbst der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika keine Moral und keinen Anstand mehr kennt?

Was ist uns noch heilig im 21. Jahrhundert?
Dient der technische Fortschritt wirklich noch der Verbesserung unseres Lebens oder steht er nicht im Wesentlichen im Dienste der Industrie und insbesondere der Waffenindustrie? Und was ist mit dem Wissen, das durch permanente Forschung wächst? Befinden sich nicht weite Felder der naturwissenschaftlichen Forschung ebenfalls in der Hand der Industrie, die so ihren Bedarf nach neuen Medikamenten deckt, die in erster Linie Folgen und Symptome behandeln, statt auf Prävention zu setzen? Was ist uns eigentlich noch heilig im 21. Jahrhundert? - Heilig im Sinne von Heil bringend und uns verbindend mit Gott, so dass es uns daran erinnert, wer wir wirklich sind und woher wir kommen. Wenn man sich die gegenwärtigen Entwicklungen anschaut, dann kann man ernsthaft bezweifeln, dass die Menschheit wirklich bereit ist für eine Synthese aus Glauben und Wissen, die zugleich inspiriert und motiviert. Charakterbildung im Sinne einer aufgeklärten und dennoch spirituellen Suche nach dem Sinn ist ein anspruchsvolles Unterfangen, das viel Disziplin, aber auch Offenheit, Neugier und Klarheit erfordert. Wer ist noch bereit dazu im Angesicht der modernen Varianten von „Brot und Spielen“  wie Fernsehen, Internet, Computerspielen, Pornographie, die uns nicht nur mit neuen virtuellen Welten versorgen, sondern im Sekundentakt immer gleich die nächste Sensation zu bieten haben? Doch mit der Zeit lernen wir, dass uns diese „Abenteuer“ vom wirklichen Leben ablenken. Sie entfernen uns mehr und mehr von einem selbstbestimmten Leben und echter spiritueller Erfahrung, denn wir haben in der Zwischenzeit verlernt, genauer hinzuschauen oder hinzuhören, um Gottes Gegenwart zu spüren.

Vorstellungen ändern sich - aber die Transzendenz des Göttlichen bleibt
500 Jahre nach der Reformation scheint es an der Zeit daran zu erinnern, dass Glauben und spirituelle Praxis sich der allgemeinen Entwicklung nicht verschließen dürfen und können, um weiter gelebt werden zu können und den Menschen in seiner Suche nach den letzten Antworten zu unterstützen. Eine Synthese aus Glauben und Wissen ist möglich, denn Wissenschaft basiert auch nur auf Hypothesen und technischer Fortschritt zeigt uns letztlich doch nur auf, dass sich die Grenzen des Machbaren verschieben, ohne jedoch die Transzendenz des Göttlichen in Frage zu stellen, außer vielleicht unsere eigenen Vorstellungen davon.