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Telefonseelsorge: „Müssen der Krise ein Zugleich entgegensetzen“

Coronavirus

Artikelbild Für viele Anruferinnen und Anrufer der Telefonseelsorge ist Corona aktuell ein wichtiges Thema. 
Artikelbild Volker Bier 

Verzeichnen Sie in Zeiten von Corona mehr Anruferinnen und Anrufer als sonst?

Wir sind eigentlich immer voll ausgelastet, haben aber derzeit durch den unermüdlichen Einsatz unserer Ehrenamtlichen die Kapazität um 16 Prozent erhöht. Und diese 16 Prozent werden von den Anrufenden auch vollständig genutzt. Weil wir wissen, dass ohnehin immer mehr Menschen anrufen, als wir Sprechzeiten anbieten können, können wir jedoch nicht genau sagen, ob und, wenn ja, wie stark die Zahlen gestiegen sind. Was wir aber sagen können ist, dass in zirka der Hälfte der Anrufe Corona eines der wichtigsten Themen ist.

Gibt es denn auch Menschen, die nur wegen des Corona-Virus anrufen?

Ja, die gibt es von Woche zu Woche zunehmend! Insgesamt bekommen wir in Saarbrücken etwa 200 Anrufe pro Woche mit einer durchschnittlichen Gesprächsdauer von 20 Minuten, in zirka 15 Erstanrufen davon geht es nur um Corona. Das ist viel.

Was sind die größten Sorgen der Anrufenden?

Die Angst um die berufliche Zukunft, Einsamkeit und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Vor allem Letzteres trifft viele Menschen sehr. Wir sind es gewohnt, selbst zu entschieden, mit wem und wie lange wir Kontakt haben. Jetzt bekommt das Familienleben durch Home Office und Schulschließungen eine andere Dynamik, Konflikte entstehen. Es gibt Besuchsverbote für Seniorenheime, man darf die eigenen Eltern nicht mehr sehen. Das soziale Miteinander verändert sich komplett und äußert sich dabei auf zweierlei Weise: Entweder als Einsamkeit und Verlust oder als „Nicht-weggehen-können“. Da ist einerseits die Person, deren bester Freund im Krankenhaus verstirbt, sie ihn aber nicht mehr besuchen durfte. Und andererseits sind da die Kinder und Jugendlichen, die es mit ihren Eltern nicht mehr aushalten, aber nicht rausdürfen. Am heftigsten trifft es bei alle dem die Menschen, die schon vorbelastet sind.

Was meinen Sie damit genau?

Wer vorher ängstlich war, ist jetzt panisch. Wer vorher einsam war, hat jetzt überhaupt niemanden mehr. Diese Menschen erleben die derzeitige Ohnmacht, Isolation und auch Gefährdung der beruflichen Zukunft in weitaus höherem Maße als beispielsweise jemand, der einen festen Job und die Gewissheit hat, dass es auch nach der Krise weitergeht. Und dann sind da ja auch noch diejenigen, die die Situation kognitiv einfach nicht verstehen können. Beispielsweise die alte Dame, die kein Fernsehen schaut und sich fragt, warum die Straßen so leer sind oder warum Menschen einen Mundschutz tragen. Dazu zählen besonders Personen mit einer psychischen Erkrankung, die immerhin 26 Prozent unserer Anruferinnen und Anrufer ausmachen. Diese Menschen erleben sich wehrlos. Und sie alle brauchen die Möglichkeit, mit jemanden über das zu reden, was sie nicht verstehen.

Ist die derzeitige Situation also auch für die Telefonseelsorge eine besondere?

Ja, definitiv. Und das nicht nur, weil alle zu einem größeren Engagement bereit sind. Es ist die erste Krise, die uns alle betrifft, die Anrufenden und die Beratenden. Anders als beispielweise bei Arbeitslosigkeit, von der in der Regel der oder die Beratende nicht betroffen ist. Zum ersten Mal sind wir somit alle „infiziert“. Wir alle haben Angst, auch ich habe Angst um die Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, um meine Familie, die wirtschaftliche Situation und die Zukunft der Kirche.

Wie können wir uns denn gegen diese Ängste und Sorgen stemmen?

Zuerst einmal hilft häufig die Frage danach, ob die Sorge oder Angst für den ganzen Tag gilt oder ob es auch Zeiten am Tag gibt, die wir anders erleben. Außerdem können wir uns fragen, wie wir denn früher mit Schwierigkeiten zurechtgekommen sind. Oft erkennen wir dann unsere Resilienz, merken, dass wir schon früher Krisen bewältigt haben. Wir Christinnen und Christen kommen dann oft auch auf Gott, der – gerufen oder nicht – immer für uns da ist, dem wir vertrauen können und der uns trägt. Im innerkirchlichen Bereich stelle ich auch häufig die Frage: „Welches Lied fällt Ihnen ein, wenn Sie an Corona denken?“ Sie glauben gar nicht, was da selbstverständlich an vertrauten Liedern hervorgeholt wird.  „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ ist nur eines davon. Ich erlebe, dass wir in solchen spontanen, unmittelbaren Begegnungen mit dem eigenen Vertrauen oder dem Vertrauen anderer Menschen viel Positives erleben können. Ganz entscheidend ist grundsätzlich immer, den Fokus zu verändern, nicht nur die Opferrolle einzunehmen. Wir erleben derzeit eine große Ohnmacht, die müssen wir aber leider annehmen und erkennen, dass die Corona-Krise uns alle beschäftigt. Und dem müssen wir dann ein „und zugleich“ entgegensetzen. Im Sinne von: Und es gibt Menschen, denen ich etwas Gutes tun möchte und die mir guttun. Und es gibt Momente und Lieder, die mir guttun. Es geht nicht um ein Verdrängen, sondern ein Danebenstellen. Wenn wir das beherzigen, kann uns das in dieser schweren Zeit helfen und zuversichtlich stimmen.

Die Telefonseelsorge Saar
Die Telefonseelsorge ist in Deutschland bundesweit 24 Stunden am Tag gebührenfrei und anonym unter der Telefonnummer 0800 1110111 erreichbar. Bei der Evangelisch-katholischen Telefonseelsorge Saar stehen rund 80 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rund um die Uhr für Gespräche bereit. Dafür werden sie über ein Jahr lang sorgfältig ausgebildet. Vier hauptamtliche Kräfte (zwei Diplom-Psychologinnen, ein Diplom-Psychologe und ein evangelischer Pfarrer) begleiten die Beratungen, die am Telefon, per Mail oder im Chat geführt werden.

Beratungsstellen in der Evangelischen Kirche im Rheinland

Hilfe und Beratung in schwierigen Lebenssituationen bieten die Beratungsstellen im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland in diesen Zeiten des Kontaktverbots auch per Telefon (und vereinzelt auch per E-Mail). Eine Übersicht zeigt, welche Einrichtungen diesen Service bieten.