Raum für die verschiedenen Erinnerungen und Verletzungen

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Am 29. Mai jährte sich in Solingen der Brandanschlag auf die Familie Genc zum 26. Mal. Für den Evangelischen Kirchenkreis Solingen hat Dr. Ilka Werner an den zwei Gedenk­veran­stal­tungen teilgenommen: am Denkmal und an der Unteren Wernerstraße.

Frau Dr. Werner, Sie haben sowohl am Treffen am Denkmal teilgenommen als auch an dem in der Unteren Wernerstraße. Was war das Wichtigste für Sie?
Für mich war es wichtig, dass es nach dem großen und auch schwierigen 25. Jahrestag im letzten Jahr gelungen ist, beide Treffen weiter zu entwickeln: Am Mahnmal am Mildred Scheel Berufskolleg wurden weniger Reden gehalten, im Mittelpunkt standen die Verleihung des Silbernen Schuhs an Daniela Tobias und die Gebete am Mahnmal. An der Unteren Wernerstraße war ich erstmalig eingeladen und auch gebeten, dort zu reden. Beides zeigt mir: Wir inszenieren nicht ein Gedenken, wir leben mit der lebendigen Erinnerung an die Getöteten.

Was haben Sie bei den beiden Erinnerungsveranstaltungen gesagt?
Nachdem im letzten Jahr das Gebet der Religionen zu einem so wichtigen, gemeinsamen spirituellen Erlebnis wurde, ging es am Mahnmal für mich mehr um das Beten als ums Reden. Wichtig war mir, dass Ayse Borlucaoglu von der Solinger DITIB-Gemeinde und ich neben Koranrezitationen und Bibellesungen abwechselnd ein gemeinsames Gebet gesprochen haben (Text siehe unten)..
An der Unteren Wernerstraße war es mir wichtig zu betonen, dass wir alle Geschöpfe des einen Gottes sind und darum zusammengehören – und dass die verschiedenen und unterschiedlichen Gefühle, die wir mit dem 29. Mai verbinden, uns bei allen Schwierigkeiten und Missverständnissen, die es auch gibt, nicht voneinander trennen (Text siehe unten).

Was kann der Beitrag der Evangelischen Kirche in Solingen auch in Zukunft bleiben?
Nun, wo es ums Miteinanderleben geht, da ist auch der Glaube der Menschen wichtig. Insofern bleibt es die Rolle der Kirche, als eine Stimme die religiöse Frage nach Schuld, Trauer und Versöhnung zu stellen und gemeinsam mit den muslimischen Geschwistern Antworten darauf zu versuchen: Antworten, die teils ähnlich oder gleich sind, in denen aber auch die bleibenden Verschiedenheiten von Christentum und Islam deutlich werden.
Andererseits habe ich in vielen Gesprächen vor allem im letzten Jahr gelernt, dass sich mit dem 29. Mai in Solingen eigentlich zwei bittere Ereignisse verbinden: einmal der Brandanschlag, und dann die Ausschreitungen an den Tagen danach. Beides kann und darf nicht miteinander aufgerechnet oder gegeneinander ausgespielt werden. Im Raum der Kirchen sollte darum Platz sein für die verschiedenen Erinnerungen und Verletzungen dieser Tage Ende Mai 1993. Denn einfach abstreifen können wir diese Zeit nicht – auch nicht die Solingerinnen und Solinger, die, so wie ich, damals noch gar nicht hier gelebt haben.
 

Gemeinsames Gebet am Mahnmal am Mildred-Scheel-Berufskolleg
von Dr. Ilka Werner und Ayse Borlucaoglu am 29. Mai 2019

Ilka Werner: Gott, erbarme dich über die Menschen in Solingen.
Ayse Borlucaoglu: Allah, schenke allen Menschen in Solingen Frieden.
Ilka Werner: Lass die Menschen in Solingen nicht vergessen, was am 29. Mai 1993 geschah, lass sie alle, die damals gestorben sind oder verwundet worden, in Erinnerung behalten.
Ayse Borlucaoglu: Lass alle Solinger nicht vergessen, dass das damals kein Unglück war, sondern ein Verbrechen.
Ilka Werner: Gott, wir bitten dich um Versöhnung unter den Menschen in Solingen.
Ayse Borlucaoglu: Wir versprechen einander heute abend, dass wir uns gegenseitig respektieren, dass wir uns wehren, wenn jemand diskriminiert wird, dass wir uns füreinander einsetzen.
Ilka Werner: Wir versprechen dir heute abend, dass wir uns wie Schwestern und Brüder ansehen wollen.
Ayse Borlucaoglu: Allah, wir bitten dich: Schenke allen Menschen in Solingen ein sicheres, friedliches und frohes Leben.
Ilka Werner: Amen.


Gedenken an Gürsün Ince, Gülüstan Öztürk, Hülya Genc, Saime Genc und Hatice Genc
Rede an der Unteren Wernerstraße am 29.5.2019

Liebe Geschwister, liebe Geschöpfe des einen Gottes,
danke, dass ich heute Abend als evangelische Pfarrerin hier sprechen darf.
Es ist ein trauriger Anlass, der uns hierherführt, auch nach so vielen Jahren steht die Trauer um die Toten im Mittelpunkt und das Mitleiden mit denen, die damals ins Herz getroffen wurden.
Aber es ist gut, dass wir hier gemeinsam stehen, dass Trauer und Schmerz und Wut und Angst und Schuld und Scham uns nicht auseinanderdividieren, dass wir immer wieder Wege zueinander suchen und finden, auch wenn es manchmal schwierig ist und Missverständnisse nicht ausbleiben.
Wir gehören zusammen, als Bürgerinnen und Bürger einer Stadt und als Geschöpfe des einen Gottes,
des einen Gottes, der versprochen hat, Gerechtigkeit zu schaffen und uns mit Barmherzigkeit zu begegnen – denen, die Unrecht leiden und denen, die schuldig geworden sind.
Darum bitten wir: Segne uns heute Abend, gerechter und barmherziger Gott, segne uns und alle deine Geschöpfe. Amen.

Ilka Werner

 

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