Wie meist bei Kellermann, so ist auch seine neue Schrift eine „wissenschaftliche Arbeit für Laien“. Wer mag, kann also die Kapitel über Melodie, Rezeptionsgeschichte und theologische Hintergründe des Nachtliedes hintereinander weglesen. Wissenschaftlich interessiertem Publikum bieten acht Seiten Anmerkungen und Quellenhinweise zahlreiche Anknüpfungspunkte für ein intensiveres Studium. Zum Tersteegengendeken zum 250 Todestag hatte Kellermann bereits ein -mittlerweile vergriffenes- Lesebuch über den „Mülheimer Mystiker und die Macht der Liebe Gottes“ herausgegeben. Enthalten sind dort neben einem biografischen Abriss und vielen Orginaltexten auch eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Tersteegens bekannten Liedtext „Ich bete an die Macht der Liebe“.
Die theologische Essenz Tersteegens, so Kellermann, besteht vor allem in seiner mystischen Ausrichtung, die im nun besprochenen Nachtlied „Nun schläfet man“ ganz besonders zum Tragen kommt. „Seine Mystik ist einerseits theologisch fundiert, setzt andererseits aber auch ein großes Vertrauen in die Bibel voraus“, erklärt der Theologe. Für den Mystiker Tersteegen sei es entscheidend gewesen, Gott in einer persönlichen Beziehung zu erfahren. „In sich gehen, und in sich hinein hören, dabei alles andere loslassen“, das sei die praktische Herangehensweise der Tersteegenschen Mystik gewesen, beschreibt Kellermann. – Und die Nacht mit ihrer speziellen Stimmung genau die richtige Zeit dafür. Die besondere Atmosphäre, die das Lied vermittelt, und auch „die Einzigartigkeit unter dichterischen Gesichtspunkten“, sind es, die Kellermanns persönliche Faszination an den über 200 Jahre alten Liedzeilen ausmachen.
Darüber hinaus passe Tersteegens Zugang doch auch heute sehr gut zur zeitgenössischen Suche nach Spiritualität, so Kellermann. Das Vertrauen in die Bibel und die Zuwendung zu Gott funktioniere nach Tersteegens Verständnis „nur mit Herzblut, in einem intimen Verhältnis zu Gott und nicht auf Abstand“. Das macht, so Kellermann, die Tersteegensche „Gotteserotik“ aus.
Die Melodie seines Nachtlieds hat Tersteegen übrigens aus einem Schlager seiner Zeit übernommen. Kellermann schreibt dazu; „Wenn Tersteegen zu seinem Text die Weise eines verbreiteten Liebesliedes aus dem 17. Jahrhundert aufgegriffen hat, zeigt dieses beispielhaft, dass der Mülheimer Fromme nicht „aus der Welt“ war, sondern deren Hits durchaus kannte“. - Und durchaus auch parodistisch auf die Schippe nahm, wie Ulrich Kellermann im Gespräch betont.
Der Pietismus, dem Tersteegen zugerechnet wird, gilt im Allgemeinen nicht als Hort spezieller Fröhlichkeit. Umso mehr macht Kellermann als Theologe mit Forscherehrgeiz den Tersteegenschen Humor als wissenschaftliches Desideratum aus. „Die alte Hütte kracht mal wieder“ hatte Tersteegen einst in seinem Briefen mit Bezug auf die eigene Gesundheit geschrieben – und so einiges mehr. Professor Kellermann nimmt die Idee für eine nächste Tersteegen-Veröffentlichung schon einmal in den Blick.
]]>Prof. Dr. Ulrich Kellermann (*1936) war von 1972 bis 2000 Pfarrer der damaligen Kirchengemeinde Holthausen. Von 1970 bis 1992 hatte er einen Lehrauftrag für Hellenistisches Judentum an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal inne, habilitierte 1975 und wurde 1980 zum apl. Professor für Altes Testament in Münster ernannt. Im Dezember 2018 wurde Prof. Kellermann unter anderem für sein Engagement für die Mülheimer Kirchengeschichte mit dem Hoffnungspreis des Kirchenkreises An der Ruhr ausgezeichnet.
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