Kontakt | Impressum

Links zur Aggregation:

Metadaten:

17.06.2018

Die Geschichte der Tamar und die Anerkennung des Leides

Das geistliche Wort | 17.06.2018 | 05:08 Uhr

Alttext  
Das geistliche Wort | Haupt-Scherer

Autorin: Die Straßen sind leer. Die Mittagshitze flirrt in den Gassen. Da: eine junge Frau, eher noch ein Mädchen läuft durch die Straßen und schreit und schreit. Ihr Haar ist wirr und zerzaust und staubig, ihre Stimme schon heiser. Ihr Kleid, das königliche Ärmelkleid, das Symbol von Reinheit und Jungfräulichkeit, hängt in Fetzen – als Zeichen für ihren geschundenen Körper. „Psst! Das macht man nicht. Schweig stille!“, tönt es aus den Fensterhöhlen. Alle haben sich zurückgezogen. Peinlich ist das. Damit will niemand etwas zu tun haben: „Psst! Das gehört sich nicht!“Aber Tamar, die Tochter des Königs David will nicht schweigen. Sie lässt sich nicht mundtot machen. Sie will von dem reden, was ihr passiert ist. Die Gesellschaft will von sexualisierter Gewalt nichts wissen. Aber Tamar stellt Öffentlichkeit her, sie schreit ihr Leiden heraus. Sie will, dass es alle wissen. Sie will, dass ihr Leid anerkannt wird. Das ist ihr wichtiger als jedes Tabu. Dafür nimmt sie die Peinlichkeit in Kauf. Psst, nicht so laut! Tamar schreit ihr Leid hinaus in die Welt mit dem Mut der Verzweiflung. Noch keine Stunde ist es her, da ist sie von ihrem Halbbruder Amnon vergewaltigt worden. Da taucht endlich ihr Lieblingsbruder auf, Absalom, der sie zu sich nehmen wird – die Geschundene, die nun keine Jungfrau mehr ist und damit eine Last für die Familie. Auch er scheut den Aufruhr, den Tamar macht. „Nicht so laut, es gucken doch alle.“ „Nimm es dir nicht so zu Herzen“, sagt Absalom. „Er ist doch dein Bruder!“ Später wird sich Absalom an Amnon rächen und ihn erschlagen lassen. Aber heimlich! So bleibt Tamar allein mit ihrem Wunsch, dass ihr Leid anerkannt wird. David wird zornig werden, als er das hört. Aber Handeln – Gerechtigkeit wiederherstellen wird er nicht. Kein wirkliches Wunder: Sexuelle Übergriffe sind ein Kavaliersdelikt in Davids Dynastie. So bekräftigt die Familie das Tabu. Musik: David's Harp, CD: Dances of the Soul (Music by Manny Katz), Track: 12, Komposition: Manny Katz, Interpret: Giora Feidman & Ensemble; Label: Pianissimo Musik (Edel); LC: 20164Autorin: Die biblische Überlieferung von Tamar im zweiten Buch Samuel im 13. Kapitel beteiligt sich nicht an dem Tabu und an den Vertuschungsversuchen. Die Bibel hat die Geschichte von Tamars Vergewaltigung überliefert – Jahrhundert für Jahrhundert. So bekommt Tamars Leid Öffentlichkeit und Anerkennung. Wahr ist aber auch: Spätere Generationen wussten mit der Geschichte von Tamar lange nichts anzufangen. Sperrig war sie – peinlich. In Predigtreihen wurde sie nicht berücksichtigt, in Kinderbibeln ausgelassen. So ist sie in Vergessenheit geraten und mit ihr das Leid der Tamar. Das ist heute anders: Tamars Bedürfnis, dass öffentlich wird, was man ihr angetan hat, bestärkt andere Überlebende von sexualisierter Gewalt. Das weiß auch Ursula Enders, die ihr berufliches Leben der Aufdeckung und Bekämpfung von Missbrauch und sexuellen Übergriffen verschieben hat. Schon früh war sie auf dieses Thema gestoßen als Lehrerin und als sozialpädagogische Familienhilfe. 1990 hatte sie ihr Buch „Zart war ich, bitter war`s!“ veröffentlicht und damit das Thema Missbrauch wie einen Stein ins Rollen gebracht. Für mich als junge Theologin war ihr Buch der erste Kontakt zu dem Thema. Vieles hat mich damals irritiert und bestürzt. Am Ende hat es meine Berufsbiographie geprägt und mir den Weg zu Traumapädagogik gebahnt. Mit Ursula Enders spreche ich darüber, was es für die Betroffenen bedeutet, das Geschehene aufzuarbeiten. O-Ton 1 (U. Enders): 13.31 Dass ihr Leid anerkannt wird. Weil – die Betroffenen waren in der Situation auf sich gestellt, sie sind oft in ihrer Wahrnehmung verwirrt und zum Beispiel auch eine sozialwissenschaftliche Aufarbeitung würde dazu führen, dass die unterschiedlichen Perspektiven zusammengetragen würden, und damit auch die Wahrnehmung, die grundlegende Wahrnehmung, der Betroffenen, dass ihnen Leid zugefügt wird, bestätigt wird. Autorin: Neben der institutionellen Anerkennung des Unrechtes und der sozialwissenschaftlichen Aufarbeitung liegt Ursula Enders noch etwas am dem Herzen. Dabei geht es um die peergroup der betroffenen Jugendlichen, also Freundinnen und Freunde, mit denen sie im Alltag zusammen sind.O-Ton 2: 29.00 ein ganz wichtiges Thema, was man öffentlich auch artikulieren muss, ist die Bedeutung der Zeugenschaft von Gewalt, und das Recht auf Hilfe durch Peers, weil Mädchen und Jungen, die heute betroffen sind, wenden sich fast immer an Gleichaltrige, weil sie behaupten, die Erwachsenen können nicht darüber reden, und damit haben sie oft recht. Und wenn wir Konzepte der Peer-Unterstützung verbinden mit dem Angebot an niedrigschwelligen Beratungsangeboten, dann können Opfer sich artikulieren. Musik: Wakin' Up, CD: Klezmer Meets Jazz, Track 12, Komposition: Guido Jäger, Interpret: The Giora Feidman Jazz-Experience, Label: Pianissimo Musik (Edel); LC: 20164 Autorin: Aber zurück zum Anfang der Geschichte, wie sie in der Bibel steht, von der ich ja bis jetzt nur das Ende erzählt habe. Amnon, so berichtet das zweite Buch Samuel, gewann seine Schwester Tamar lieb. Er würde ihr gerne etwas antun, hören wir weiter, aber es schien ihm unmöglich, weil Tamar noch Jungfrau war. Da kann einem schon der Atem stocken, wie da die Sprache der Täter verwendet wird. Da plant jemand ein Verbrechen gegen seine Halbschwester und spricht von Liebe. So ist das oft: Der erste Schritt, Übergriffe zu verleugnen, ist: Gewalt mit Liebe zu begründen. Der nächste Schritt: Amnon stellt sich als Opfer dar. Vor Begehren wird er krank und mager. Ursula Enders nennt das heute Täterstrategien. Und die sind in Familien und in Institutionen ziemlich ähnlich. Es wird von Liebe geredet statt von Gewalt, der Täter macht sich zum Opfer und gibt dem eigentlichen Opfer die Schuld, der Täter plant das Verbrechen und sucht Verbündete, auch wenn er es später so darstellt, als habe er die Kontrolle verloren. Er spinnt geduldig ein Netz, in dem sich ein Opfer verfangen muss. Da wo Strukturen autoritär oder familiär unübersichtlich sind, ist das Risiko gering, ertappt zu werden.In der Familie Davids, Tamars und Amnons gibt es Jonadab, einen Neffen des Königs. Der hatte Erfahrung mit Übergriffen. Intrigen waren sein Lebensinhalt. Der beobachtet seinen Vetter Amnon und er weiß, was zu tun ist, ohne dass er um Rat gefragt wäre. Er sagt: „Leg dich ins Bett und stell dich krank. Verweigere die Nahrung. Dann wird dich dein Vater David besuchen und er wird dir jeden Wunsch erfüllen. Du bist sein Lieblingssohn.“Amnon ist diesem Rat gefolgt. Er hat sich krank gestellt und seinen Vater gebeten: „Schick mir meine Schwester Tamar, damit sie mir eine Krankenspeise backe.“ Und David tut das auch. Schwer zu sagen, ob ihm egal war, was mit Tamar passiert, oder ob er ahnungslos war. Jedenfalls schnappt die Falle jetzt zu. Tamar kommt in Amnons Haus – geschickt von ihrem Vater David. Amnon liegt krank im Bett. Tamar bäckt für ihn. Als sie fertig ist, schickt Amnon alle Diener weg, so dass er mit Tamar allein ist. Spätestens jetzt wird Tamar geahnt haben, was ihr blüht.Tamar verteidigt sich, so gut sie kann. Als Amnon sie ergreift, bittet sie ihn, sie nicht zu schänden, sondern sie legal zu heiraten. Sie versucht, Zeit zu gewinnen und das Beste aus der Situation zu machen. Aber Amnon interessiert das nicht, er überwältigt sie. Tamar hat keine Chance: gefangen im Netz, das von Schweigen und Gewalt und Wegsehen geknüpft ist.Amnon ruft seine Diener und lässt Tamar aus seinem Haus treiben. „Und Amnon wurde ihrer überdrüssig, so dass sein Widerwille größer war als zuvor seine Liebe“, steht in der Bibel. Eher scheint hier deutlich zu werden, dass es nicht um Liebe ging, sondern um Bedürfnisbefriedigung mit Gewalt und ohne Rücksicht auf Verluste.Und niemand schützt. Alle schauen weg, lassen sich wegschicken wie die Diener, sind zornig ohne Konsequenzen wie David, nehmen Rache im Geheimen wie Absalom, der später heimlich Amnon erschlagen lässt. Wahrscheinlich hat Tamar nie erlebt, dass ihr Leid öffentlich anerkannt wird. Später hat das die biblische Überlieferung getan. Und das ist für mich ein Trost in diesem unsäglichen Leid: dass die biblische Überlieferung die Schreie Tamars hört und die Öffentlichkeit herstellt, die Tamar gesucht hat. So gibt es für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt einen Ort für ihre Erfahrungen und es wird benannt, was Recht und Unrecht ist.Musik: Dance of the Souls, CD: The Singing Clarinet, Track 8, Komposition: Manny Katz, Interpret: Giora Feidman, Label: Pianissimo Musik (Edel); LC: 20164Autorin: Noch heute buchstabiert die Gesellschaft und die evangelische Kirche an dieser Aufgabe: Prävention zu leisten, schützende Netze zu knüpfen, den Tätern mit ihren Strategien das Handwerk zu legen. Da werden Selbstverpflichtungen unterschrieben, Führungszeugnisse eingefordert, Schutzkonzepte entwickelt. Vieles ist voran gekommen in den letzten Jahren. Die Geschichte der Tamar zeigt aber auch, wie wichtig Aufdeckung und Öffentlichkeit ist – die öffentliche Anerkennung des Leides. Auch in der evangelischen Kirche.O-Ton 3 (15.45): Weil die Belastungen der Betroffenen resultieren nicht nur aus den Erlebnissen der Vergangenheit und den Missbrauchshandlungen der Täter, sondern oftmals auch aus der aktuellen, dem aktuellen Umgang der Kirche mit dem Bekanntwerden des Missbrauchsfalles.Autorin: So Ursula Enders. Das stößt nicht immer auf Gegenliebe. „Nicht so laut“, mag mancher auch heute denken. Oder: „Das nutzt doch niemandem und beschädigt die Kirche.“ Dazu noch einmal Ursula Enders:O-Ton 4 (21.30): Sie müssten eine Gedenkkultur zulassen, dass nämlich praktisch marginale Symbole für das stattgefundene Leid und das Versagen der Kirche auch öffentlich werden. Und das sollten sie relativ gelassen nehmen, weil es wird die Kirche nicht schwächen, sondern es wird sie stärken als einen Ort, der sich selbstkritisch auseinandersetzt und zu dem man wieder Vertrauen haben kann.Autorin: Und das wäre vielleicht das Größte, was die evangelische Kirche erreichen könnte mit der Aufdeckung von Missbrauch in der eigenen Institution: Vertrauen zurückzugewinnen. Vertrauen in die Kirche als einen Ort, wo Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer sicher sind, geschützt vor Übergriffen, so gut es geht. Damit wird Kirche zu einem Schutzraum für die Betroffenen. O-Ton 5 (15.50): und es gäbe auch die Möglichkeit, dass ein Dialog wieder entstehen könnte, so dass die Betroffenen auch nicht die Kirche verlassen müssten, sondern ein Stück Heimat in der Kirche wieder finden könnten – in der Gruppe, zu der sie eigentlich dazugehören wollten – viele, nicht alle, aber die, die es wollen – damit sie auch in ihrer Spiritualität, die für viele ja auch eine Überlebenskraft war, auch noch ihren Ort haben.Autorin: Wo das geschieht, haben die Schreie Tamars Gehör gefunden, erfahren Betroffene Anerkennung und ein Stück Gerechtigkeit. Die heißt wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt „Gemeinschaftstreue“: Wiederherstellung von Gemeinschaft auch dort, wo Leid und Tabubruch geschehen ist.Ich verabschiede mich von Ihnen. Sabine Haupt-Scherer aus Bielefeld.Musik: Dance of the Souls, CD: The Singing Clarinet, Track 8, Komposition: Manny Katz, Interpret: Giora Feidman; Label: Pianissimo Musik (Edel); LC: 20164