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Das harte Brot des Religionsunterrichts am Ostrand der Europäischen Union

Rumänien

Wer sein 25. Dienstjubiläum feiert, hat in der Regel rund zwei Drittel seines Berufslebens schon hinter sich. Für Gunda Wittich war das der Anlass, sich auf die Suche nach einer neuen Herausforderung zu machen. Zuletzt 16 Jahre  Schulpfarrerin am Hermann-Gmeiner-Berufskolleg in Moers seien genug, befand sie. Und entschied sich aufgrund einer bei Facebook entdeckten Einladung für ein ökumenisches Kontaktsemester im rumänischen Hermannstadt/Sibiu. Es war der Beginn eines Abenteuers.

Was zieht eine Pfarrerin der Evangelischen Kirche im Rheinland ausgerechnet nach Rumänien? Die gebürtige Moerserin erzählt von Kindheitserinnerungen an einen Urlaub dort, von dem verheißungsvollen Siebenbürgen, in das der Rattenfänger von Hameln die Kinder entführt, von der frühen Vision, dort zu studieren. Also reist sie zum Sommersemester 2019 nach Hermannstadt und erlebt in der Begegnung von evangelischer und orthodoxer Tradition ein ökumenisches Semester, „das ich nur empfehlen kann“.

Der Zeitrahmen: „Drei Jahre sollen es schon werden“

Doch nach der beruflichen Auszeit soll es weitergehen am östlichsten Zipfel der Europäischen Union. Ein quasi auf ihre Qualifikationen zugeschnittenes Angebot, als Religionslehrerin in den rumänischen Schuldienst einzusteigen, nimmt Gunda Wittich trotz unvergleichlich schlechter Bezahlung an und lässt sich bei der rheinischen Kirche beurlauben. Sie stellt sich vor, Aufbauarbeit zu leisten in einem Land, in dem es gerade mal 40 Religionslehrerinnen und -lehrer gibt, Fortbildungsangebote zu machen, für Vernetzung zu sorgen. Und sie setzt sich einen Zeitrahmen: „Drei Jahre sollen es schon werden.“

Ein Schuljahr später ist Ernüchterung eingekehrt. Die 57-Jährige blickt während ihres Heimaturlaubs von der Dachterrasse des Landeskirchenamts auf die Dächer von Düsseldorf und sagt: „Das Schulsystem in Rumänien ist eine Katastrophe.“ Das Schrecklichste dabei sei, „dass es gar nicht um die Schülerinnen und Schüler geht. Es geht darum, dass die Schule den bestmöglichen Notendurchschnitt hat.“ Mit der Folge, dass in Fächern wie Religion, Sport, Kunst und Musik die zehn Punkte als im dortigen System übliche Bestbenotung quasi allgemein erwartet werden. „Die Note hat nichts damit zu tun, was ein Schüler oder eine Schülerin macht oder ob er oder sie überhaupt da ist.“

Bestnote erwartet ohne jede Teilnahme am Unterricht

Einmal rief eine Schülerin an, die weder vor noch während oder nach der Corona-Schulschließung am Unterricht teilgenommen hatte. „Sie war nicht einmal im Klassenbuch geführt.“ Trotzdem habe sie die zehn Punkte für Religion bestellen wollen, weil sie die Note noch brauchte. Als Wittich sich weigerte, hatte sie in der Folge nicht nur den Klassenlehrer am Telefon. „In den Augen der Kolleginnen und Kollegen gelte ich jetzt wahrscheinlich als nicht anpassungsfähig.“

Gunda Wittich ist derzeit jenseits der Grundschulen die einzige Religionslehrerin in der 140.000-Einwohner-Stadt. Mit einer halben Stelle unterrichtet sie in der Oberstufe von drei Schulen, eine komplett deutschsprachig, die beiden anderen mit deutschen Zweigen. Rumänien folgt dem französischen System mit Primarschule (Jahrgangsstufen 1 bis 4), Gymnasium (5 bis 8) und Lyzeum (9 bis 12). Aber die deutsche Kultur schwindet: In den Klassen sitzen nur noch ein bis zwei evangelische Schülerinnen und Schüler, die Evangelische Kirchengemeinde Augsburgischen Bekenntnisses in Hermannstadt zählt gerade noch knapp tausend Mitglieder. Nach dem Sturz und der Erschießung des Diktators Ceaușescu haben die Siebenbürger Sachsen zu Tausenden die Stadt und das Land verlassen.

Ein System, das sich nur schwer ändern lässt

Praktisch alle Schülerinnen und Schüler nehmen Nachhilfeunterricht. Den geben wiederum die unterbezahlten Lehrkräfte. So entstehen gegenseitige Abhängigkeiten. „Es gibt Menschen und sogar auch Schulleitungen, die sich darum bemühen, etwas zu ändern“, sagt Wittich. „Aber sie stehen immer etwas auf verlorenem Posten.“ Meist müssten sie sich Sprüche anhören wie „Da kann man nichts machen“ oder „Du kannst doch nicht das System ändern.“  Deutsche Lehrkräfte, nach ihrer Pensionierung zur Unterstützung angeworben, wurden wieder weggemobbt. Auch Wittich selbst hatte ein Erlebnis mit einer Schulleiterin vor der Klasse, das sie als reine Machtdemonstration empfunden hat.

Mit der zweiten Hälfte ihrer Stelle soll die rheinische Pfarrerin andere Religionslehrerinnen und -lehrer im Land coachen, für ihre Vernetzung und Fortbildung sorgen. Aber auch das gestaltet sich schwierig: Es gibt Vorbehalte gegen die „Fremde“ und eine kleine Fortbildung zu sexueller Vielfalt rüttelte an einem gesellschaftlichen Tabuthema, das gleichwohl die Schülerinnen und Schüler derzeit enorm beschäftigt. Immerhin: Aus der wahnwitzigen Aufforderung, innerhalb von zwei Monaten ein Religionsbuch für das 8. Schuljahr zu schreiben, ist jetzt wirklich ein allerdings längerfristiges Buchprojekt geworden.

Land mit einer fehlenden demokratischen Tradition

Trotz alledem, „ich mache die drei Jahre voll“, sagt Wittich. Die ideelle und auch finanzielle Unterstützung der rheinischen Kirche trägt sie, ihre Supervision auch – und ihre Begeisterung für Europa. Ein Europa, in dem die Unterschiede krasser sind, als sie sich das je hätte vorstellen können. Die fehlende demokratische Tradition bis zum Umbruch 1989 ist für die Pfarrerin ein Erklärungsansatz dafür, dass so vieles im Argen liegt und sich der Einsatz doch gerade deshalb lohnt. „Ich habe noch eine Hoffnung, sehe aber, wie sie sabotiert wird.“

Warum sie dann bleibt? „Es gibt tolle Leute dort.“ Es gibt dieses damals 13-jährige Mädchen, das sie im Unterricht hatte und das in dieser Zeit für Hermannstadt die Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ aufgebaut hat. Es gibt diese zwei Jungs, die sich im Religionsunterricht als homosexuell geoutet und von ihren Erfahrungen des Schweigenmüssens erzählt haben. Es gibt diese Mutter, die sich auf der Straße dafür bedankt hat, dass sich endlich mal jemand in der Institution Schule positiv zur Homosexualität ihres Kindes geäußert und gesagt hat, dass es so sein darf, wie es ist.  „Es muss dort jemanden geben, der keine Abhängigkeiten hat und deshalb andere Sachen sagen kann. Schon für diese paar Schülerinnen und Schüler ist es das wert“, sagt Wittich. Auch die eher evangelikal orientierte Jugendwerksarbeit benötige ein Gegengewicht, bei dem sich Wissenschaft und Religion begegnen könnten.

Ökumenische Highlights an der Basis

Für ihr zweites Schuljahr hat sich Gunda Wittich vorgenommen: „Ich möchte mich nicht mehr erniedrigen lassen.“ Sonst werde sie den staatlichen Religionsunterricht verlassen „und mich in anderer Form an die Gemeinde andocken“. Eine Herausforderung hat sie in Rumänien gesucht und in ganz anderer Form als erwartet gefunden. „Das ist auch belebend.“ So belebend wie „das traumhaft schöne Land“, die kulturelle Vielfalt „und immer wieder die ökumenischen Highlights“. Jeden Mittwoch trifft sie sich mit einer kleinen Gruppe von Religionsunterrichts-Anfängern. Da sitzen dann Evangelische und Orthodoxe an einem Tisch. „An der Basis schafft man das.“